2016-04-17

Kotzman

Ich schrieb hier schon über die Menschen, die in dem Heim um die Ecke wohnen. Menschen, denen es offensichtlich gesundheitlich nicht gut geht, die aufgrund ihrer Suchtproblematik nicht mehr für sich alleine sorgen können. Menschen, die dieser Gegend hier ein Stück weit ehrlichen Charakter verleihen. Menschen, die man ganz gerne trifft, sie können Geschichten erzählen. Also wenn die cerebrale Schädigung noch nicht zu weit fortgeschritten ist, dass sie die Kommunikation schon zu sehr gestört hat.

Im Großen und Ganzen sind diese Menschen nach außen ganz friedliche Personen. Was hinter den Zimmertüren passiert, wissen wir natürlich nicht. Die Heimbetreuung lässt sie immer sehr gepflegt nur auf die Straße. Sie tun niemandem weh. Sie sind im Grunde ein Schutzschild. Sie mahnen mit ihren Existenzen für den eigenen Lebensweg. Damals, kurze Jahre nach dem Mauerfall als das ehemalige DDR-Asylantenheim in dieses soziale Pflegeheim umfunktioniert werden sollte, hatte mir meine Cousine erzählt, haben sich die Bewohner mit Händen und Füßen dagegen gewehrt und schlimmste Szenarien im Alltag mit diesen Menschen vermutet. Fruchtlos. Nun, die Menschen, die hier in letzter Zeit anderen Menschen körperlichen Schaden zufügten, waren nachweislich dort keine Anwohner. Womöglich lebt das Böse gar nicht dort.

Ich sehe viele dieser Menschen hier einmal oder auch mehrmals am Tag zum Discounter an meinen Wohnungsfenstern vorbei schleichen, sich neuen Stoff holen. Bei dem einen oder anderen kann man die Uhr stellen, so pünktlich sind die in ihrem Tun. Vielleicht hat es weniger mit der Sucht zu tun als mit der einen, für sie wichtigen, Tagesaufgabe. Wer nicht mehr gebraucht wird von der Gesellschaft, schafft sich halt seine eigenen Strukturen. Wenn auch er längst aus dem System gefallen ist. Der Mensch funktioniert so. Im Grunde ist egal, ob der Mann morgens um acht Uhr das Büro aufschließt oder sich um die gleiche Zeit im Discounter in die Kassenschlange stellt. Auch ist egal, was da um acht Uhr eingekauft wird. Morgens um acht Uhr ist man tätig, sonst ist man nichts.

Kotzman habe ich vor ca. einem Jahr das erste Mal gesehen. Ich wusste ihr erst nicht einzuordnen, den Kotzman war erstaunlich gut gekleidet, sah aber schon nicht wirklich gesund aus. Er kam mir auf der Straße entgegen und kippte sich am frühen Vormittag einen Kurzen. So ließ sich Kotzmans Herkunft recht schnell vermuten.

Seit dem habe ich Kotzman oft gesehen. Er ist einer dieser Ritualgänger. Er geht gerne zwei Mal am Tag zum Discounter. Dort wird er gebraucht. Er ist ein Alki und als solcher sichert er dem Discounter den Umsatz, der Kassiererin ihren Arbeitsplatz. Manchmal bleibt Kotzman mitten auf dem Gehweg stehen und diskutiert mit einer Person, die ich einfach zu doof bin zu sehen. Sie ist dennoch eindeutig da, denn Kotzman hat ihr viel zu erzählen. Sie scheint ihm einiges zu geben. An Ärger. Leider. Diese Person begleitet ihn übrigens immer nur auf der anderen Fußgängerseite der Straße. Geht er auf meiner Seite, lässt sie ihn in Frieden gehen. Auf meiner Seite wird nicht gezankt, hier wird gekotzt.

Denn neulich sah ich Kotzman morgens wieder zum Discounter laufen, eher schlurfend laufend. Sein Gang ist spezieller Natur, eine ganz besondere Kombination zwischen jugendlicher Dynamik und alter Gebrechlichkeit. Beides passt gar nicht zueinander. Daher wirkt es. Kotzmann lief also, zog an seiner Zigarette, beugte sich leicht vorneüber im Gehen, kotzte einen Schwall hellbraune Flüssigkeit auf die Straße, lief ungerührt weiter als wäre nichts geschehen und zog erneut an seiner Zigarette.

Mich hatte das – trotz Ekel – ein Stück weit beeindruckt. Noch nie habe ich jemanden so unbeteiligt kotzen sehen. Als wäre dieser Vorgang des Speiens das Alltäglichste der Welt für ihn. Nicht wichtig sich darum zu kümmern; schon gar nicht wichtig, um sich noch zu wundern. Ein Profi des Kotzens! Ich hatte so eine Ahnung, das war nicht sein erstes Mal.

Gestern sah ich Kotzman wieder. Er kam vom Discounter zurück. Kurz vor der Höhe meines Schlafzimmerfensters setzte er die kleine braune Flasche an und exste diese leer. Vor meinem Küchenfenster, keine drei Meter weiter, erbrach er seinen Schwall Mageninhalt auf die Straße, wieder leicht vorne über gebeugt – die einzige Bewegung bzw. Aufmerksamkeit, die er hinsichtlich des Kotzens sich selbst noch abverlangt.

Er macht das so professionell, er geht dabei weiter ohne selbst dem Schwall im Weg zu stellen. Er wischt sich nicht einmal den Mund danach ab. Er ist schlicht unbeeindruckt ob seines Kotzvorgangs. Mittlerweile ist er erschreckend dünn. Er spürt sich selbst so wenig, dass er schon seit Wochen keine Winterkleidung mehr trägt. Wenn der Alkohol direkt den Kotzvorgang auslöst, weiß man Bescheid.

Kotzman säuft sich tot. Oft werde ich ihn wohl nicht mehr kotzen sehen.


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